Das Interview mit CEO Patrik Meli von MAN Energy Solutions Schweiz führte Wolfgang Pittrich von der «Technischen Rundschau».
Die Termini «Dekarbonisierung» und «Sektorkopplung» fallen immer öfter, wenn es um die klimaneutrale Zukunft des Industriestandorts Schweiz geht. Was versteht man genau darunter?
Patrik Meli: Die Dekarboniserung ist eine der grössten Herausforderungen unserer Zeit. Die Schweiz hat sich international dazu verpflichtet, ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 50 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Mit Blick auf dieses ambitionierte Ziel steht der Industriestandort Schweiz vor einer Zeitenwende und muss sich neu orientieren. Unter Dekarbonisierung versteht man genau diese Umstellung in Richtung einer kohlenstofffreien Wirtschaft.
Was hat es mit der Sektorkopplung auf sich?
Die Sektorkopplung stellt meiner Ansicht nach einen essenziellen Schlüssel für den Weg in eine klimaneutrale Zukunft dar. Damit die Emissionen wirklich nachhaltig sinken, ist eine Kopplung der Sektoren wie Elektrizität, Verkehr sowie Wärme- und Kälteversorgung dringend nötig. Wir können also bei diesem Thema nicht nur an Elektroautos denken – so einfach ist das leider nicht. Mehr als 50 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs und 40 Prozent der CO2- Emissionen entfallen auf Wärme und Kälte, da erneuerbare Energien nur 10 Prozent der benötigten Gesamtenergie liefern. Heute basiert die Erzeugung von Wärme und Kälte mehrheitlich auf fossilen Brennstoffen, aber der Anteil erneuerbarer Energien am Energiemix wird in den kommenden Jahren stark wachsen. Diese müssen auch ausserhalb der Stromnetze für die Erzeugung von Wärme und Kälte nutzbar gemacht werden. Denn während der Energiesektor seine Emissionen kontinuierlich senkt, ist beim Wärme- und Kältesektor noch keine Trendwende sichtbar. Die gute Nachricht ist, dass wir heute Technologielösungen haben, welche die Sektorkopplung ermöglichen.
Sie sprechen auf das von MAN Energy Solutions auf den Weg gebrachte «Electro Thermal Energy Storage»-Verfahren, kurz: ETES, an?
ETES ermöglicht die Sektorkopplung und kann somit einen wichtigen Beitrag zur Dekarbonisierung geben. Unsere Technologie löst zwei grundlegende Probleme: Einerseits unterstützt sie die Aufrechterhaltung des Netzgleichgewichts, indem sie grosse Mengen an überschüssigem Strom aus erneuerbaren Energien aufnimmt, speichert und bei Bedarf wieder in das Netz einspeist. Andererseits integriert sie mehrere Sektoren, indem sie Wärme- oder Kälteenergie für Heiz- und Kühlzwecke erzeugt, speichert und bereitstellt.
Ein Partner bei der Verfahrensentwicklung war ABB Schweiz. Wie sieht diese Kooperation im Detail aus?
Wir haben früh erkannt, dass sich die beiden Unternehmen im Feld der Elektrothermie perfekt ergänzen. Aus diesem Grund haben wir 2018 unsere Kräfte gebündelt und sind mit ABB Schweiz eine Kooperationsvereinbarung über die Entwicklung, Produktion und Vermarktung des Energiemanagementsystems eingegangen. Bei ETES kommen Expertisenfelder und Technologien beider Unternehmen zum Einsatz: Während ABB die elektrischen Komponenten beisteuert, stellt MAN Energy Solutions die Turbomaschinen für die Verdichtung und Rückverstromung sowie die schlüsselfertige Anlage her.
Kommen wir zurück auf ETES: Wie funktioniert dieses Verfahren genau?
Die Technologie basiert auf der reversiblen Umwandlung von elektrischer Energie in thermische Energie mittels Speicherung als Warmwasser und Eis. Dabei arbeitet das System nach dem gewöhnlichen Wärmepumpenprinzip: Ein Kältemittel, in diesem Fall CO2, wird in einem geschlossenen Kreislauf mittels Druckerhöhung erhitzt und anschliessend wieder abgekühlt; dazu nutzt ETES erneuerbare Energien. Die freigesetzte Wärme und Kälte werden in isolierten Reservoirs gespeichert und können parallel zum Ladeprozess an Verbraucher abgegeben werden. Einzigartig ist dabei, dass die gespeicherte Wärme und Kälte auch jederzeit in Strom zurückverwandelt werden kann. Das System kann somit als Energiespeicher und Wärmepumpe in grosser Skala zugleich eingesetzt werden.
Wo sehen Sie persönlich die grossen Vorteile des Systems?
Die ETES-Technologie ist ein grosser Durchbruch auf dem Weg zur Dekarbonisierung, weil es als erstes System nicht nur für die reine Stromspeicherung konzipiert ist, sondern neu als gesamtheitliches Energiemanagementsystem. ETES koppelt die verschiedenen Sektoren, indem es die Strom-, Wärme- und Kälteversorgung nicht mehr getrennt behandelt, sondern als Brücke dazwischen fungiert. Mit diesem Ansatz überwinden wir das «Strom-rein-Strom-raus»-Prinzip und brechen das bestehende Silo-Denken der Branche auf. Ein weiterer Vorteil des Systems sind die ungefährlichen Arbeitsstoffe, die dafür verwendet werden: CO2 als Arbeitsmedium für die Wärme- und Kälte-Prozesse und Wasser als Speichermedium.
Das klingt jetzt wahrscheinlich einfacher als es in der realen Umsetzung ist.
Im Grunde genommen ist das ganze System dahinter ziemlich simpel. Wir haben alle eine Miniaturausgabe des ETES-Systems zu Hause in der Küche stehen: unseren Kühlschrank. Wer die Funktionsweise dieses Alltagsgegenstands kennt, versteht auch, wie ETES läuft. Nur hinsichtlich der Rückverstromung kann der Kühlschrank leider nicht mithalten.
Gibt es auch Einschränkungen, die es möglicherweise zu beachten gilt?
ETES ist eine industriell skalierte Lösung. Da wir hier über grosse Anwendungen sprechen, ist das System beispielsweise nicht als Lösung für das Heizen und Kühlen einzelner Häuser geeignet. Wenn wir jedoch eine Lösung für ganze Quartiere suchen, sieht es wieder anders aus.
Für welche Unternehmen oder Institutionen würden Sie den Einsatz des ETES-Systems besonders empfehlen?
Das System ist hinsichtlich der Anwendungsgebiete sehr flexibel. Die Wärme kann sowohl für industrielle Anwendungen bereitgestellt werden als auch in Form von Fernwärme für die Versorgung von Stadtvierteln oder für Heizungsanlagen in grossen Gebäuden wie Krankenhäusern und Schulkomplexen. Typische Kälteanwendungen sind unter anderem die Kühlung von Rechenzentren oder die Klimatisierung grosser Gebäude. Im Bereich der produzierenden Industrie sind speziell Wärme- und Kälteanwendungen im Temperaturbereich von 0 °C bis etwa 150 °C interessant. Diese Bedingungen sind vielfach in der Lebensmittel- und Getränkeindustrie sowie der chemischen und Pharmaindustrie anzutreffen. Stromversorgern hilft ETES, die Netzstabilität zu sichern, indem zum Beispiel grosse Mengen an erneuerbaren Energien gespeichert und zu einem späteren Zeitpunkt verfügbar gemacht werden können. So lassen sich Schwankungen im Stromsystem flexibel ausgleichen. Zudem erlaubt ein digitales Steuerungssystem den Betreibern, rasch auf die Bedürfnisse des Markts agieren zu können.
Existieren bereits konkrete Pilotanwendungen?
Momentan bauen wir in unseren Prüfstandshallen im Kreis 5 von Zürich eine kleine Version des ETES-Systems auf, wo wir den Wärme- und Kälteprozess testen werden. Spätestens im Herbst 2020 werden wir das theoretische Terrain komplett verlassen und ETES im Einsatz sehen können; zahlreiche Interessengruppen warten bereits gespannt darauf. Gleichzeitig befinden wir uns in der Projektphase für die ersten Pilotanlagen. Wir streben an, die erste kommerzielle Anlage innerhalb von zwei Jahren in Betrieb zu nehmen. Die Technologie stösst auf grosses Interesse, sowohl bei potenziellen Kunden als auch bei Fachleuten. Wir merken das vor allem in nordeuropäischen Ländern wie Dänemark, Irland oder Deutschland, wo der Klimawandeldiskurs langsam auch auf politischer Ebene zu konkreteren Ergebnissen führt.
Wie viele der benötigten Komponenten oder Anlagenteile kommen aus Schweizer Provenienz?
Das ETES-System besteht vorwiegend aus bewährten Technologien und Einzelkomponenten von MAN Energy Solutions und ABB. Die beiden Unternehmen führen nicht nur die Entwicklung und den Vertrieb, sondern auch die Fertigung ihrer Produkte in der Schweiz durch. Ein gutes Beispiel ist der «Hofim» - der hermetisch gekapselte Highspeed-Motorkompressor -, welcher im Ladezyklus des ETES-Systems benötigt wird, um das CO2 zu komprimieren und zu erhitzen. Diese Hightech-Maschine wird in Zürich entwickelt, produziert und getestet und hat bereits in verschieden Bereichen unzählige Betriebsstunden gesammelt. Die im Kompressor integrierten aktiven Magnetlager entwickelt Mecos. Dieses Tochterunternehmen von MAN Energy Solutions hat ihre Entwicklungs- und Produktionsstätte auch in der Limmatstadt.
Wo, denken Sie, werden wir in fünf Jahren stehen, wenn Sie auf die Verbreitung von ETES blicken?
Nur mit innovativen Technologien und neuen Lösungsansätzen schaffen wir den Weg zu einer nachhaltigen Energiezukunft. Ich erwarte, dass die Themen Stromspeicherung und Sektorkopplung in den nächsten fünf Jahren gross an Bedeutung gewinnen werden. Aus diesem Grund sehe ich heute ein sehr grosses Marktpotenzial und eine zukünftig hohe Verbreitung für unsere ETES-Lösung.
Zur Person
Patrik Meli, ist Managing Director der MAN Energy Solutions Schweiz und als Projektleiter verantwortlich für zukunftsweisende Technologien wie den weltweit ersten Unterwasser-Kompressor und das neue Energiespeichersystem ETES.
Er war einer der Referenten am 18. Swissmem-Symposium zum Thema «Herausforderung Dekarbonisierung – Lösungen der MEM-Industrie» vom 27. August 2020.