Der Schrecken sitzt tief. Und die Angst vor der unsichtbaren Gefahr – der Strahlung. Vor 35 Jahren kam es im Atomkraftwerk Tschernobyl zum grössten Reaktorunfall der Geschichte. Explosionen katapultierten radioaktives Material in die Luft. Die Wolke verseuchte weite Landstriche, trieb bis nach Mitteleuropa, bis zum Nordkap. Auch die Bilder gehen um die Welt: von strahlengeschädigten Babys, von verrotteten Autos in der Geisterstadt Pripjat, von zerborstenen Fenstern, vom überwucherten Freizeitpark. Reaktorunfälle waren aber auch Anstoss: Der Ausstieg aus der Kernenergie in der Schweiz wurde nach Fukushima beschlossen, die Energiewende eingeleitet. Wie weiter? «Was in Tschernobyl passierte, war ein Desaster», sagt Wissenschaftler Jiri Krepel. «Auch Fukushima vor zehn Jahren. Dennoch kann die Spur, die wir durch Atomkraft hinterlassen, sehr klein sein im Vergleich zu anderen Technologien. Sie erzeugt weder Luftschadstoffe noch Treibhausgase.» Krepel untersucht am Paul Scherrer Institut (PSI) die Möglichkeiten und Gefahren von potenziell künftigen Kernreaktoren der nächsten Generation. Moment mal: Atomkraft und Zukunft – wie passt das zusammen?
«Technologieoptimisten glauben nicht daran, dass wir Kernenergie weiter brauchen werden. Auch ich würde all unsere Energie am liebsten aus dem Wind ziehen. Aber so weit sind wir noch nicht», sagt er. «Eine skalierbare Lösung für die Energiespeicherung fehlt noch. Was also tun, wenn der Wind nicht bläst?» Ausserdem hielten andere Länder durchaus an der Kernenergie fest, es würden sogar neue Kraftwerke gebaut. Da brauche es doch das Know-how in Sachen Sicherheit und neue Technologien. Die Schweiz dürfe sich da nicht abhängen lassen. Was also könnte die Lösung sein? Krepels Spezialgebiet sind sogenannte Flüssigsalzreaktoren (Molten Salt Reactors: MSR), in denen sich ein Brennstoff gleichmässig verteilt in einer flüssigen Salzmischung von hoher Temperatur befindet. Die radioaktiven Spaltprodukte, die bei der Energiegewinnung entstehen, würden täglich oder sogar stündlich entnommen und in einem Lagertank aufbewahrt. Käme es doch zu einem Unfall, wären die Strahlenmenge und der Schaden dadurch kleiner. «MSR könnte man ausserdem mit verschiedenen Brennstoffen betreiben statt nur mit Uran. Dadurch wären die Reserven für mehrere Jahrtausende gesichert», so Krepel. Ein weiterer Vorteil: Auch beim Recycling für radioaktives Brennmaterial könnten die neuen Anlagen nützlich sein: Bereits abgebrannte Brennstoffe heutiger Reaktoren liessen sich dort weiterverwenden. «Das wäre äusserst energieeffizient. Ausserdem blieben dann nur noch Spaltprodukte als radioaktiver Abfall mit relativ kurzer Halbwertszeit übrig.»
Doch es wird noch lange dauern, bis die Anlagen umfassend erforscht und getestet sind – ob sie überhaupt jemals kommerziell in Betrieb gehen, ist unklar. Ein Knackpunkt: Das aufgelöste Salz korrodiert das Material der Behälter stark. Freie Neutronen machen es spröde. Zudem bräuchte es extrem hohe Temperaturen für die Kernschmelze, was die Materialwahl weiter einschränkt. «Im Vergleich zu Kernfusionreaktoren sehe ich aber keine prinzipiellen Probleme. Einige Testreaktoren sind weltweit schon im Bau oder in Planung.» Ob Flüssigsalz- oder andere Reaktoren – Jiri Krepel ist fasziniert von der Kernenergie. «Sie ist ein Geschenk des Universums», sagt er. «Nicht jeder Planet hat diese enorm starke Energie zur Verfügung. Wir sollten sie weiter erforschen.»
Die Kraft der Atome
Atome sind nicht, wie einst angenommen, die kleinsten nicht mehr teilbaren Bausteine. 1938 gelang es erstmals, sie zu spalten. Atomkerne enthalten extrem viel Kernenergie. Bei ihrer Spaltung wird diese freigesetzt und radioaktive Strahlung erzeugt. Doch woher kommt die Energie? Die Kerne der Atome bestehen aus positiv geladenen Protonen und ungeladenen Neutronen. Gleiche Ladungen stossen sich ab, daher müssten die Protonen auseinanderstreben. Die starke Wechselwirkung, die Bindungskräfte, also quasi der Klebstoff der Kerne, lassen dies nicht zu. Die schwersten Kerne sind wohl nach einer Supernova entstanden. Sie sind eine Art Energiekonserve und halten wie ein grosser Käfig Protonen im Zaum. Wird der Käfig aber aufgebrochen, kommt es zu einer sehr heftigen Abstossung. Dies ist die frei werdende Energie.